Tagungsbericht: Erkundungen des Ungewohnten

Bericht zur Online-Tagung
Erkundungen des Ungewohnten. Empirisches Forschen in außergewöhnlichen Kontexten 
Isabelle Bosbach
Am 11. und 12. Juni 2021 fand die an der Universität Passau organisierte sozialwissenschaftliche (Online-)Fachtagung „Erkundungen des Ungewohnten. Empirisches Forschen in außergewöhnlichen Kontexten“ statt. Thematisch rückten die Tagungsorganisatoren Thorsten Benkel und Matthias Meitzler verschiedene Dimensionen der empirischen Befragung und theoretischen Reflexion des sonst Unbefragten in den Fokus.
Im Anschluss an die Begrüßung eröffnete Thorsten Benkel (Passau) die Tagung mit zwei Reflexionen über die Erforschung des Verborgenen: Zum einen werde durch Wissen und dessen Generierung auch immer das (Noch-)Nicht-Gewusste bzw. potenziell Wissbare vergegenwärtigt, und der serendipity effect zeige, dass auch das Feld ungefragt Antworten liefert, die das Fremdverstehen herausfordern können. Zum anderen existiere das Problem des Übergangs von der wissenschaftlichen Sinnwelt in die des Alltags. Zweifel an der Distanz zum Feld bestünden insbesondere dann, wenn Forschende leiblich vom Feld vereinnahmt werden. Allerdings sei die Involviertheit der Forschenden begrenzt, weil ihnen stets die Schwierigkeit der Adaption fremder (feldinterner) Einstellungen gegenüberstehe. Diese Dialektik des Forschungsprozesses bringe das Ungewohnte zum Vorschein – nicht zwangsläufig als antizipiertes Erkenntnisinteresse, sondern als retrospektiver Blick auf die sukzessive Enthüllung des einst Unverstandenen und Verborgenen.
Matthias Meitzler (Passau) demonstrierte in seinem Vortrag, was ungewöhnlich erscheinende Forschungsgegenstände sowie Forschungspraktiken im Feld bedeuten. Die Enttäuschung feldexterner Normalitätserwartungen könne nicht nur bei den Forschenden, sondern auch bei den Rezipient*innen von Forschungsergebnissen für Verunsicherung und Befremdung sorgen. Auf der Grundlage eigener Felderfahrungen thematisierte Meitzler das bisweilen konfliktträchtige Spannungsverhältnis von Feld und Forschung. Je nach Beschaffenheit des Feldes könne die Forschungspraxis zu bald größeren, bald kleineren Irritationen bei den dortigen Akteuren führen. Ferner lasse sich anhand der Forscher*innensubjektivität erkennen, dass die Ungewöhnlichkeit eines Untersuchungsbereiches vom lebensweltlichen Standpunkt der Forschenden abhängig ist. Da das Ungewöhnliche mithin eine grenzüberschreitende Zumutung bedeuten könne, sei nicht nur danach zu fragen, wie viel Forschung das Feld, sondern auch wie viel Feld die/der Forschende verträgt.
Michael Ernst-Heidenreich (Koblenz) stellte seine Überlegungen zur situativen Nicht-Alltäglichkeit für die Erforschung von aus Irritationen hervorgehenden Dynamiken vor. Alltag sei von der situativen Nichtalltäglichkeit zu unterscheiden, weil letztere räumlich, sozial und zeitlich verdichtete und auf das Hier und Jetzt fokussierte Situationen bestimme, die den Nährboden neuer Beziehungen, Formationen und intersubjektiver Bedeutungszumessungen bilde. Ernst-Heidenreich betonte, dass ein solcher ethnografischer Blick auf sich in Bewegung befindende Phänomene das Schreiben einer dynamischen Geschichte eines dynamischen Gegenstands des Entstehens möglich mache.
Melanie Pierburg (Hildesheim) ging in ihrem Vortrag dem ungewohnten Selbst im wissenschaftlichen Kontext auf den Grund. Zunächst bestimmte sie Alltag sozialphänomenologisch als Modus der selbstverständlichen Weltauslegung und das Ungewohnte als eine gescheiterte Auslegung in ein lebensweltliches Passungsverhältnis. Zur Erforschung gescheiterter Passungsverhältnisse schlug sie den innerhalb der Wissenschaft als ungewohnt charakterisierten Zugang der Autoethnografie vor. Am Beispiel der ehrenamtlichen Sterbebegleitung veranschaulichte sie, wie das Ungewohnte im Rahmen einer autoethnografischen Vignette zum Vorschein kommen kann.
Christoph Nienhaus (Bonn) legte dar, dass eine rechtssoziologische Perspektive mehr als die Unterscheidung zwischen erlaubt/nicht erlaubt gewährleiste und verschiedene soziale Ordnungen einzelner, ungewohnter Felder einer pluralisierten Gesellschaft in den Blick nehmen könne. Um die Entstehung und Aufrechterhaltung sozialer Normen, wie ihrer Abweichung zu erklären, müsse Recht als Kultur verstanden werden. Für die empirische Erforschung feldinterner sozialer Normen schlug er eine machtstrukturierende Perspektive auf Subjektivierungs- bzw. Normalisierungsprozesse vor, um auch jene die Ordnung (des Feldes) strukturierenden normativen und kognitiven (Erwartungs-)Erwartungen einzubeziehen.
Am Beispiel der COVID-19-Pandemie betrachteten Julia Huber und Nadine Müller (beide Jena) den plötzlichen Einfluss des Ungewohnten auf ihre der Vorbereitung auf das Ungewohnte dienende Forschung. Im Rahmen ihres Projekts gehen sie der Frage nach, wie Resilienz in Bezug auf den potenziellen Umgang mit High Consequence Infectious Diseases-Situationen gefördert werden könne. Huber und Müller schilderten, wie COVID-19 ihr Forschungsvorhaben verhinderte und wie sie ihren neuen Schwerpunkt fortan auf das Verhältnis von antizipierten und realen Herausforderungen legten.
In der abendlichen Keynote entfaltete Manfred Prisching (Graz) am Beispiel von drei Phänomenen vielfältige Thesen zu der Relation von Alltag und seiner Irritation. Erstens offenbarte die Reflexion über den Alltag in der Schlussepoche der Habsburger Monarchie, dass ein individuell gewöhnlicher Alltag verschieden zu anderen Alltagen unterschiedlicher Milieus desselben Imperiums sei und untereinander nicht immer Anschlussfähigkeit besteht. Die Gewöhnlichkeit für Milieu-Insider und Außergewöhnlichkeit für Milieu-Outsider sei für Soziolog*innen auch in der Gegenwart einer pluralistischen, fragmentierten und individualisierten Welt relevant, weil von einer Zunahme des Ungewöhnlichen auszugehen sei. Zweitens konkretisierten autoethnografische Reflexionen über das einwöchige Festsitzen in einem Hotel in New Orleans während des Hurricans Catharina im Jahr 2005 das Ausmaß der Verunsicherungen durch die Darstellung der gestörten, ehemals normalen Erwartungsbildung. Drittens ließe sich aus der durch die COVID-19-Pandemie irritierten Gewohnheiten ab 2020 ein Gradualismus der Unterscheidung zwischen gewohnt und ungewohnt ableiten, der sich in der (De-)Legitimation von Freiheitsbeschränkungen äußere. Zudem käme der (Un-)Gewöhnlichkeit des Todes eine Sonderrolle zu, weil die Thematisierung von fragilen Körpern plötzlich in ihrer Außergewöhnlichkeit alltäglich geworden sei.
Den zweiten Tag eröffnete Ingmar Mundt (Passau) mit einem Blick auf die unbekannte Facette der Zukunftskonstruktion. So allgegenwärtig Zukunft in der Moderne als Kommunikationsgegenstand auch sei, werde sie letztlich doch nie konkret. Der in soziologischen Gegenwartsdiagnosen negative Blick auf die Zukunft müsse sich auch in den temporalen Selbstverhältnissen der Subjekte äußern. Gegenwärtige Zukünfte seien zwar hinsichtlich ihrer Möglichkeiten offen, durch vergangene und gegenwärtige Entscheidungen sei die zukünftige Gegenwart aber stets vorstrukturiert.
Frank-Holger Acker (Hannover) präsentierte die Analyse eines ungeplanten autoethnografischen Krisenexperiments. Als Polizist und promovierter Soziologe wollte er am wissenschaftlichen Diskurs teilnehmen und einen ihm erteilten Lehrauftrag realisieren. Gegen letzteren legte der ASTA der betreffenden Hochschule allerdings ein Veto ein. Der auch von der Presse aufgegriffene Fall löste einige konfliktreiche Auseinandersetzungen mit der Frage aus, ob sich die Rolle des Dozenten eines sozialwissenschaftlichen Fachs mit der des Polizisten vereinbaren lässt – und führte letztlich zum Abbruch der Lehrveranstaltung. Die zentralen Ereignisse, Inhalte und Akteure dieses Sachverhaltes rekonstruierte Acker anhand einer systemtheoretisch orientierten Perspektive auf das Verhältnis von Polizei und Wissenschaft.
Der Vortrag von Julia Sellig (Passau) gab Einblicke in die Kopplung zwischen selbstlernender Medizintechnologie und Diabetiker*innen. Zunächst erläuterte sie, inwiefern neuere Medizintechnologien wie z.B. selbstlernende Insulinpumpen die Insulinberechnung obsolet machen. Daran anknüpfend illustrierte sie die leibliche Dimension der Technologienutzung mit Rekurs auf die Hermann Schmitz’sche Leibphänomenologie. Die Aufnahme der Körperdaten von dem selbstlernenden System stelle eine einseitige Einleibung dar, die zu einer wechselseitigen Einleibung werde, wenn und weil sie den Nutzenden eine leibliche Gewohnheit biete.
Ekkehard Coenen (Weimar) diskutierte seine Untersuchungen zu im Darknet veröffentlichten Gewaltvideos und zeigte, dass die Kommunikation über Gewaltvideos durch eine Verrätselung und Akzentuierung des Ungewöhnlichen gekennzeichnet ist. In diesem Zusammenhang betrachtete Coenen außerdem aus seinen gemeinschaftlichen Videointerpretationssitzungen.
Mit dem Phänomen der Abweichung war auch Christian Thiel (Augsburg) in seiner Forschung über betrügerische Praktiken konfrontiert. Die von ihm interviewten, als strategische Betrüger*innen typisierte Personen gaben unterschiedliche, nicht kohärente Wirklichkeitskonstruktionen preis, die nicht in der Rekonstruktion des Wahren münden können. Soziolog*innen seien in diesem Feld mit der Herausforderung konfrontiert, zwischen strategisch gesetzter Wirklichkeit und nicht an intersubjektive Deutungen anschließbare subjektive Wirklichkeit zu unterscheiden.
Leonie Schmickler (Passau) thematisierte den weiblichen Intimbereich als Austragungsort gesellschaftlicher Aushandlungsprozesse. Die chirurgische (Re-)Konstruktion des Hymens reagiere auf die Erwartung einer bestimmten körperlichen Beschaffenheit zum Zeitpunkt der ersten ehelichen Penetration und versuche, durch das medizinische Angebot den für die betroffenen Frauen bestehenden sozialen Druck zu lösen. Die Unwissenheit über die Beschaffenheit des Vaginalkränzchens, patriarchalische Gesellschaftsstrukturen und die medizinische Hymen(re)konstruktion hielten den Mythos vom Jungfernhäutchen indes aufrecht. In diesem Sinne liege das Problem nicht im Schoß der Frau, sondern in den gesellschaftlich vermittelten Selbst- und Weltverhältnissen.
Teresa Geisler (Berlin) beleuchtete in ihrem Vortrag, wie und warum sich das Phänomen ‚Chemsex‘ von anderen Formen des Geschlechtsverkehrs unter Substanzgebrauch unterscheidet. Ausschlaggebend seien dafür die Dimensionen Vulnerabilität, Risiko, Lust, Technologie und Versagen der Autoritäten. Chemsex könne als Versuch einer (schwulen) Kollektivierung von intimen Erfahrungen unter neoliberalen Bedingungen verstanden werden.
Den Tagungsabschluss bildete der Vortrag von Andreas Ziemann (Weimar), der seine ethnografische Arbeit zur Steuerfahndung im Bordell vorstellte. Juristische Regelungen wie das Steuergeheimnis der Bürger*innen und das Dienstgeheimnis der Steuerfahnder*innen stellten sich als Hindernisse des (letztlich dennoch gelungenen) Feldzugangs in den Weg. Anhand von Beispielen aus dem Feld legte Ziemann dar, inwiefern Interaktionen mit feldexternen Akteuren vorstrukturiert sind und die beobachtete Berufspraxis einer ständigen Selbstdisziplinierung unterliegt.
Die Tagung ließ eine große Brandbreite ungewöhnlicher Forschungssituationen und -gegenstände erkennen. Unfreiwillige Autoethnografien krisenhafter Situationen wurden ebenso anschaulich dargestellt, wie die forschende Störung der Normalitätskonzepte des Feldes. In diesem Sinne wurden sowohl Einblicke in als ungewöhnlich geltende Phänomene geboten als auch reflektiert, welche Herausforderungen sich hieraus für die Forschungspraxis und die Forschenden ergeben.