Wir freuen uns Ihnen die Keynote-Vorträge für den ÖGS-Kongress 2023 vorstellen zu dürfen.


Epistemische Konfliktherde. Kritik und Krise am Gegenstand der Corona-Pandemie

Univ.-Prof. Dr. Michaela Pfadenhauer (Universität Wien)
3. Juli 2023, 11:30-12:30
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Der Vortrag beginnt mit einer Einordnung der SARS Cov-19 Pandemie als Krise. Während Krise sozialwissenschaftlich als Wahrnehmungs- und Kommunikationsphänomen gilt, hat sich die Pandemie als ein Problem der Körper im öffentlichen Raum manifestiert, das Maßnahmen räumlicher Schließung und in der Konsequenz soziale Exklusion zur Folge hatte. Zudem war die Pandemie ein Diskurs-Ereignis, bei der die Deutungsmacht zu weiten Teilen wissenschaftlichen Experten und Expertinnen oblag. Die Pandemie war aber auch in dem Sinne eine Krise der Expert:innen, als Schwierigkeiten von Expertenwissen offensichtlich geworden sind. Die Krise der Expertise wird seit geraumer Zeit thematisiert; die Diagnose korrespondiert einerseits mit der hierzulande jüngst politisch als Problem identifizierten Wissenschaftsskepsis und damit einem auch populistisch gesäten Misstrauen in Expertise; sie steht andererseits aber auch in einem spannungsreichen Verhältnis zu einer auch mit der Ausrufung der Wissensgesellschaft verbreiteten Wissensfrömmigkeit, die unhinterfragt auf Wissensversprechen vertraut. Empirisch interessiert mich, inwiefern die mit den Corona-Protesten Öffentlichkeit beanspruchende, häufiger aber privat geäußerte und konfliktreich verhandelte Kritik an den Maßnahmen gegen die Corona-Pandemie mit dieser facettenreichen Krise von Expertenschaft in einem Zusammenhang steht. Damit ist das im Zentrum dieser Veranstaltung stehende Verhältnis von Kritik und Krise angesprochen, wobei letztere nicht zwangsläufig aus ersterer die geboren sein muss. Aus der Einschätzung dieser Relation leitet sich ab, was wir aus dieser für kommende Krisen lernen können. Dann stellt sich die Frage, ob ein adäquater Umgang mit Maßnahmen-Kritik an der Krise der Expertise ansetzen muss, für die Professionalisierung eventuell eine Lösung sein könnte. Ausgehend von der Einordnung der Pandemie als ein Problem der Körper im Raum lassen sich sowohl die durch Expertise legitimierten Maßnahmen zur Lösung dieses Problems als auch die sich auf Gegenexpertise berufende Maßnahmenkritik aus einer Perspektive betrachten, die epistemische Konflikte räumlich betrachtet. So schöpft die Kritik wesentlich aus Aktivitäten eigenen Recherchierens, die lokal orientiert ist und zugleich über Ländergrenzen hinweg verbindet und Gewissheit aus dem Vergleich nationalstaatlich orientierter Strategien zieht und darin wechselseitig bestätigend wirkt. Der Vortrag spannt den Bogen von der Pandemie als Krise über die Expertise in der Krise und die Kritik an der Pandemiebewältigung hin zur Frage der Krisenbewältigung.


Verlust. Über die andere Seite des Fortschritts

Prof. Dr. Andreas Reckwitz (HU Berlin)
4. Juli 2023, 09:30-10:30
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Die westliche Moderne basiert auf einem Fortschrittsimperativ: der Voraussetzung gesellschaftlicher Verbesserung von der Vergangenheit über die Gegenwart bis in die Zukunft. Sein blinder Fleck sind die Verlusterfahrungen. Tatsächlich basiert die Moderne seit ihren Anfängen insgeheim auf einer Verlustparadoxie: das Unsichtbarmachen von Verlusterfahrungen, deren Potenzierung und die Entwicklung von Verlustverarbeitungsformen vom Risiko bis zur Psychotherapie gehen hier Hand in Hand. In der Spätmoderne freilich wird die Verletztlichkeit des Sozialen immer deutlicher und die Verluste treten ins Zentrum der Sichtbarkeit – von den Modernisierungsverlierer:innen bis zu den Folgen des Klimawandels. Der Vortrag bemüht sich in diesem Sinne um einige Grundbegriffe einer Soziologie der Verluste.