Themenpapier

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Energiekrise, Ukraine-Krieg, globale Erwärmung und weltweite Seuchen – angesichts der Vielzahl gegenwärtiger Krisen, Konflikte und Katastrophen werden Stimmen laut, die von „Zeitenwende“ oder einem epochalen Umbruch sprechen. Gemeint ist damit, dass aufgrund globaler Gefährdungslagen eingelebte Praktiken, Institutionen und Denkweisen unter Druck geraten und einem Umdenken bzw. politischen Umsteuern Platz machen. Die Rückkehr der Geopolitik und die (versuchsweise) Abkehr von fossilen Energieträgern sind hier genauso zu nennen wie die wachsende Kritik am westlichen Wachstums- und Wohlstandsmodell oder der Streit um die richtige Einwanderungspolitik. Allerdings zeigen diese Beispiele auch, dass gerade in Krisenzeiten etablierte Routinen, Denk- und Verhaltens­weisen ein hohes Beharrungsvermögen haben.

Natürlich kommt der Druck, den die gegenwärtige Gesellschaft erlebt, nicht nur von außen, in Gestalt neuartiger Risiken oder anhaltender globaler Konflikte. Dieser Druck resultiert auch aus der gesell­schaftlichen Erwartung, dass – frei nach Max Weber – sich alle Dinge im Prinzip durch Berechnen und technischen Fortschritt beherrschen lassen. Der typisch moderne Gestaltungs- und Steuerungsopti­mismus verstärkt die Krisenstimmung. Man könnte vielleicht sogar sagen: Erst der feste Glaube daran, dass es für große Probleme auch große, zentral koordinierte Lösungen geben muss, ruft angesichts stetiger Enttäuschungen das Gefühl hervor, dass wir uns in einer permanenten Krisenphase befinden.

Die enge Verknüpfung zwischen Krise und Kritik spiegelt sich heute auf mehreren Ebenen. Zum einen erleben wir eine durch die Krise angeregte bzw. radikalisierte Kritik. So haben sich im Klimastreit neue Aktions- und Protestformen entwickelt, um eine zögerliche Politik zum Handeln zu bewegen. In der Pandemie drehten sich viele Auseinandersetzungen darum, ob die Krise von der Politik richtig er­kannt, gedeutet und mit den passenden Maßnahmen bekämpft wurde. Zum zweiten erleben wir, dass im Zuge dieser Konflikte die Kritik selbst in die Krise gerät. Eine gesteigerte Sichtbarkeit von Ver­schwörungsmythen, das Aufleben einer fundamentalen Wissenschaftsskepsis und ein gegen die „ab­gehobene“ Elite gerichteter Hass in den sozialen Medien werden zum Stresstest für die demokratische Erwägungskultur und machen deutlich, dass Kritik keineswegs emanzipativ wirken muss.

Folgt man aktuellen Krisendiagnosen, so erstreckt sich die Krisendynamik nicht nur auf bestimmte Gesellschaftsbereiche (wie Gesundheit, Mobilität oder Migration), sondern auch auf den Kern des So­zialen, nämlich auf die Art und Weise, wie um Lösungen für diese Probleme gerungen wird und wer sich für diese Probleme zuständig fühlt bzw. in diesen Auseinandersetzungen überhaupt Gehör findet. Hier werden – meist unter dem Titel „Polarisierung“ – radikale politische Differenzen thematisiert, die aus neuen Ungleichheiten und differierenden Konfliktwahrnehmungen resultieren. Gerade der Streit um die richtige Corona-Politik hat gezeigt, welches Radikalisierungspotenzial freigesetzt wird, wenn sich akute Krisen in zähe, chronische Krisen verwandeln.

Zweifellos: Wir leben in kritischen Zeiten, wenn man darunter das weit verbreitete Gefühl versteht, dass viele Selbstverständlichkeiten auf dem Prüfstand stehen, sei es auf der Ebene von Identität, Zuge­hörigkeit und individueller Lebensplanung, sei es mit Blick auf die gesellschaftlichen Naturverhält­nisse, den soziotechnischen Wandel (Digitalisierung) oder die Zukunft der Demokratie. Ob diese Krisen tatsächlich zu einem Wendepunkt führen, also so etwas wie einen Epochenbruch einleiten oder aber die Beharrungskräfte überwiegen, ist allerdings offen. Dazu müsste die Soziologie bestimmen, inwiefern zentrale Institutionen und Funktionsbereiche der Gesellschaft tatsächlich in ihrer Funktion eingeschränkt sind oder einem tiefgreifenden Wandel unterliegen.

Auf diesem ÖGS-Kongress wird daher ergebnisoffen zur Diskussion gestellt, welchen Erklärungs­gehalt die plakative Redewendung von den kritischen Zeiten für die gegenwärtige Konstellation hat, welche Entwicklungen als ernsthafte Belastungsprobe für die Gesellschaft zu werten sind und welche Entlastungskonstruktionen gefunden werden. In einer Reihe von Plenarveranstaltungen, Ad-hoc-Gruppen und Sektionsveranstaltungen soll der soziologische Gehalt der gesellschaftsdiagnostisch orientierten These einer Zeitenwende zur Diskussion gestellt werden.