Am 4.7.2023 fand die Preisverleihung für herausragende soziologische Masterarbeiten und Dissertationen im Rahmen des ÖGS-Kongresses im Hof des Palais Strozzi am Generalsekretariat der ÖGS im Institut für Höhere Studien statt. Für die Preise wurden insgesamt 12 Dissertationen sowie 26 Masterarbeiten eingereicht. Die eingereichten Arbeiten behandelten vielfältige und relevante Themen und waren vielfältig sowohl im Theoriezuschnitt als auch in der Methodenwahl. Verfasst wurden Arbeiten u.a. zur Lebenswelt der Schule, über Asyl zwischen Recht und Menschlichkeit, Glaubenspraxis, Konsumkultur und Feminismus im Internet, zur betrieblichen Gesundheitsprävention, den Fluchtlinien der Gesellschaft, Protestformen und Klimabewegung, oder zu Stereotypen im Kabarett. Die Preisverleihung wurde von Susanne Pernicka (Johannes Kepler Universität Linz) und Sebastian Nessel (WU Wien) organisiert, die in ihrer Begrüßung zunächst erfreut feststellten, dass sich die Soziologie über die Qualität des Nachwuchses an den vielen österreichischen Standorten keine Sorgen machen muss, da sehr viele der eingereichten Arbeiten „herausragend und vielversprechend waren“.
Herzlichen Glückwunsch an alle Preisträger:innen und auch an die soziologischen Institute und alle Betreuenden, dass derart viele hochwertige und wirklich hervorragende soziologische Masterarbeiten entstanden sind! Ganz herzlich bedanken möchten wir uns an dieser Stelle auch bei den Mitgliedern der wissenschaftlichen Jury zur Evaluierung der eingereichten Arbeiten. Mitgewirkt haben Kornelia Hahn von der Universität Salzburg, Klaus Kraemer von der Universität Graz, Christoph Reinprecht von der Universität Wien, Joachim Gerich und Martina Beham-Rabanser von der Universität Linz.
Sebastian Nessel, 30. August 2023
Dissertationspreis
„Ambivalente Regulierungen und Subjektformierungen: Transformationen des Care-Regimes am Beispiel der österreichischen Live-in-Betreuung“
Dr.in Veronika Prieler, BA MSSc
„Mit ihrer kumulativen Dissertation „Ambivalente Regulierungen und Subjektformierungen: Transformationen des Care-Regimes am Beispiel der österreichischen Live-in-Betreuung“ ist es Veronika Prieler gelungen, ein aktuelles und brennendes Thema, nämlich die tiefgreifende Transformation in der gesellschaftlichen Organisation der Versorgung älterer Menschen mit einer theoretisch anspruchsvollen und methodisch versierten Arbeit zur Live-in-Care, also der 24-stunden Betreuung, zu erhellen. Auf theoretischer Ebene verbindet sie das Konzept der Regime-Intersektionalität aus der Wohlfahrtsstaatsforschung mit jenem der Regierungsrationalitäten und -technologien aus den Gouvernementalitätsstudien. Es gelingt ihr in beeindruckender Weise, die unmittelbare Arbeitsrealität der Pfleger:innen mit einer kritischen Auseinandersetzung der gesellschaftlichen Produktions- und Reproduktionsbedingungen von sozialer Ungleichheit zu verschränken. Und nicht nur das, die Arbeit nimmt eine Perspektive ein, die transnationale Sorgeregime mit ihren migrations-, geschlechter- und machtbezogenen Implikationen ausleuchtet.“ Betreut wurde die Arbeit von Brigitte Aulenbacher an der Johannes-Kepler-Universität Linz.
Herausragende Masterarbeiten
„Berglandwirtschaft zwischen Autonomie und Fremdbestimmt“
Cecilia Baurenhas, BA MA
„In Ihrer Masterarbeit mit dem Titel „Berglandwirtschaft zwischen Autonomie und Fremdbestimmt. Berufsbilder des Bergbauern und der Bergbäuerin im Wandel“ analysiert Cecilia Baurenhas auf fundierte Weise die vielfältigen Perspektiven und Sichtweisen auf den ländlichen Raum sowie die Herausforderungen, mit denen sich die Berglandwirtschaft konfrontiert sieht. Cecilia Baurenhas betrachtet den ländlichen Raum aus soziologischer und historischer Perspektive und beleuchtet hierbei die Wechselwirkungen zwischen gesellschaftlichen Entwicklungen, der Landwirtschaft und dem Selbstbild der Bäuerinnen und Bauern. Sie macht in Ihrer Arbeit genauer auf die Bedeutung des ländlichen Raumes als Erholungsraum, Kulturgut und Wirtschaftsfaktor aufmerksam. Auf Basis von problemzententrierten Interviews beschreibt sie an diesen Vorstellungen und Bildern des ländlichen Raums dann genauer die Herausforderungen, denen die Landwirtschaft im Wandel der Zeit gegenübersteht und wie sich dies auf die Lebens- und Arbeitssituation der Bäuerinnen und Bauern auswirkt. Insgesamt bietet diese Arbeit einen wertvollen Beitrag zur aktuellen Diskussion über den ländlichen Raum und regt zur weiteren Forschung zu diesem hochrelevanten aber doch bislang noch zu wenig erforschten Feld an. Und zwar jenseits von Romantisierungen der Landwirtschaft.“ Betreut wurde die Arbeit von Jörg Flecker an der Universität Wien.
„Ethnoregional Mobilization in Western Europe between 1950 and 2020: Varities, Measurement and Explanation“
Nico Tackner, BA MA
„Nico Tackner setzt sich in seiner Arbeit „Ethnoregional Mobilization in Western Europe between 1950 and 2020: Varieties, Measurement and Explanation“ mit einem sozialen und politischen Phänomen auseinander, dem in der deutschsprachigen Soziologie bisher noch wenig Bedeutung beigemessen wurde: Er untersucht empirisch die Verbreitung und steigende Bedeutung regionaler Autonomiebewegungen in Westeuropa, und das am Beispiel von rund 80 Regionen in 6 europäischen Ländern. Sein Ziel ist es, die Erfolgsfaktoren staatenloser nationalistischer und regionalistischer Parteien herauszuarbeiten. Spannend und gut aufbereitet ist dabei seine Auseinandersetzung mit der Bedeutung des Klassikers der Nationalismusforschung Ludwig Gumplowicz. Hervorzuheben ist darüber hinaus die Methodik der Studie, denn Nico Tackner hat die Datenbank für seine Analyse zunächst in einem äußert zeitaufwändigen Verfahren selbst geniert, bevor er dann mittels komplexer Regressionsanalysen Einflussfaktoren und Interaktionseffekte bei Wahlen erfolgreicher aber auch nicht-erfolgreiche Parteien analysierte. In seiner Studie wurden vertiefte Methodenkenntnisse nicht nur versiert angewandt, sondern die Ergebnisse schlussendlich auch kompetent und theoriegeleitet interpretiert. Eine nicht zuletzt in dieser Hinsicht ebenfalls vorbildhafte Arbeit, die weitaus mehr leistet, als von einer sehr guten Masterarbeit zu erwarten wäre.“ Betreut wurde die Arbeit an der Universität Graz von Franz Höllinger und Dieter Reicher.
“It’s a public space and I am part of the public. Die Catscallof-Accounts und ihre digital-analoge Widerständigkeit gegen Street Harassment“
Franziska Vesenmaier, BA MA
„Franziska Vesenmaier befasst sich in ihrer Meisterarbeit mit dem Titel Titet: „It’s a public space and I am part of the public. Die Catscallof-Accounts und ihre digital-analoge Widerständigkeit gegen Street Harassment“ mit einer aktuellen Form feministischer Gegenöffentlichkeit, den sogenannten cat-calls-of-Gruppen. Diese Gruppen haben zum Ziel, Formen von (sexueller) Belästigung im öffentlichen Raum, das sog. Street Harassment, zu thematisieren und u.a. durch Kreidemarkierung an Orten, an denen Belästigungen vorgefallen sind, auch öffentlich sichtbar zu machen. Unter Rückgriff auf Ansätze der Bewegungsforschung und Konzepte feministischer Widerständigkeit arbeitet Franziska Vesenmaier Handeln und Strategien aktivistischer Gruppen heraus. Dabei kombiniert sie mehrere qualitative Methoden, um das feministische Selbstverständnis der Aktivist:innen sowie das Verhältnis von Online und Offline-Aktivismus hinsichtlich der Produktion von Gegenöffentlichkeit zu rekonstruieren. Eine besondere Herausforderung war dabei, und die Autorin hat sie sehr gut gemeistert, die eigene Position in der feministischen Protestbewegung kritisch zu reflektieren und somit die nötige Balance zwischen forscherischer Nähe und reflexiver Distanz professionell umzusetzen. Über die innovative Thematik und die überzeugende methodische Qualität hinaus besticht diese Masterarbeit nicht zuletzt durch den Mut, die alles andere als konfliktfreie Doppelrolle als Forscherin und Aktivistin ernst zu nehmen und die Art und Weise, wie diese reflektiert, bearbeitet und bewältigt wird. Ihre Auszeichnung soll daher auch Ermutigung für andere Forschende sein, sich in Forschungsfelder zu begeben und Themen zu bearbeiten, die auch durch eigenes Engagement, Parteilichkeit und Aktivismus definiert sind.“ Betreut wurde die Arbeit von Emma Dowling an der Universität Wien.
Herausragende Masterarbeiten: Ehrenvolle Erwähnung
“Die Gewalt des Positiven. Verdinglichung und Selbstverdinglichung bei migrantischen Arbeiter:innen eines transnationalen Versandhandelskonzerns“
Yannic Wexenberger, BA MA
„Die Arbeit von Yannic Wexenberger mit dem Titel „Die Gewalt des Positiven. Verdinglichung und Selbstverdinglichung bei migrantischen Arbeiter:innen eines transnationalen Versandhandelskonzerns“ setzt sich kritisch mit der Frage auseinander, was es eigentlich bedeutet, wenn wir eine Rückkehr zur Normalität anstreben, so wie sie von Politiker:innen und Medien während und nach der Corona-Pandemie ausgerufen wurde. In seiner Arbeit zeigt Yannik Wexenberger am Beispiel der Arbeitsbedingungen von Menschen mit Migrationsgeschichte in den österreichischen Verteilerzentren eines transnationalen Versandhandelskonzerns, dass die sog. „Normalität“ auf der Unterdrückung und Ausbeutung von Migrant:innen und Flüchtlingen aus den unteren sozialen Klassen basiert. Durch qualitative Interviews, die die individuellen Erfahrungen der Arbeiter:innen abbilden, sowie im Anschluss an die kritische Theorie und die politische Ökonomie beleuchtet er Herrschaftsverhältnisse und ihre Auswirkungen auf das Arbeits- und Lebensumfeld dieser Gruppe. Er zeigt überzeugend, dass die vielfältigen Erfahrungen der Arbeiter:innen strukturell in die gegenwärtige Verfasstheit kapitalistischer Ökonomien eingebettet sind. Gerade für eine an Öffentlichkeit und kritischer Analyse interessierte soziologische Analyse sollte dieser Befund eine Ermutigung zu weiterer Forschung sein, die die öffentliche Diskussion über prekäre Arbeitsbedingungen nicht als Einzelfälle oder Skandale versteht, sondern sie als strukturelles Problem der Gesellschaft sichtbar macht.“