Am 13. April 2023 fand das Paul F. Lazarsfeld-Symposium am Akademischen Gymnasium (AKG) in Wien statt, anlässlich der Enthüllung der Ehrentafel für den Begründer der modernen empirischen Sozialforschung, Paul F. Lazarsfeld. Wir bedanken uns bei den vielen Teilnehmer:innen und insbesondere unseren Gastrednern Christian Fleck und Georg Vobruba, der Direktion des AKG, sowie den engagierten Lehrer:innen und Schüler:innen für ihre inhaltlichen und künstlerischen Beiträge.
Christian Flecks eröffnete seinen Vortrag mit dem Titel „Wiener Schmäh goes America: Paul Lazarsfeld, Begründer der modernen empirischen Sozialforschung“ mit einer interessanten Beobachtung über das Vergessen und die begrenzte Reichweite familiärer Erinnerungen. So werden normalerweise Namen und Leistungen von Menschen nach einigen Generationen vergessen. Auch in der Wissenschaft geraten die Leistungen der Ahnen oft in Vergessenheit, sofern sie nicht in spezialisierten Bereichen von kollektivem Gedächtnis bewahrt werden. Ob die Ehrentafel zur Bewahrung Paul Lazarsfeld Wirken und Denken beiträgt, werden wir nicht erfahren. Die Veranstaltung war jedenfalls eine gelungene Gelegenheit, den Einfluss und die Bedeutung von Lazarsfelds Arbeit zu reflektieren und eine Diskussion zwischen Schüler:innen, Teilnehmer:innen und Vortragenden zu eröffnen.
Wir möchten allen Teilnehmern herzlich für ihr Kommen danken und freuen uns über das große Interesse und die engagierte Beteiligung. Gemeinsam haben wir dazu beigetragen, die Erinnerung an Paul F. Lazarsfeld am AKG und darüber hinaus lebendig zu halten. Wir hoffen, dass das Symposium auch für Sie ein Erfolg war, und freuen uns, Sie schon bald auf einer kommenden ÖGS-Veranstaltung begrüßen zu dürfen. Für eine Nachschau des Symposiums werfen Sie noch einen Blick auf die vorgestellten Thesen von Georg Vobrubas!
Ihr Team der ÖGS
Paul Lazarsfeld und das Akademische Gymnasium in Wien
Gastbeitrag verfasst von Professor Dr. Georg Vobruba, Institut für Soziologie, Universität Leipzig
Paul Lazarsfeld maturierte 1919 am Akademischen Gymnasium (AKG). In welchem kulturellen Klima wurde er erwachsen? Die kulturelle und intellektuelle Atmosphäre in Wien war in den Zehner- und Zwanzigerjahre des 20. Jahrhunderts außergewöhnlich dicht und anregend. Ich denke, dass dies an dem Zusammenstoß von Tradition und Moderne lag, der in Wien besonders heftig war. Tiefe Verunsicherung und ausgreifende Kreativität in bildender Kunst, Literatur und Wissenschaft waren die Folge. Dominante Herausforderung waren erst Identitätsfragen, dann, nach dem ersten Weltkrieg, Verteilungsfragen. Prägend waren erst Psychoanalyse, (Selbst-)Porträtmalerei, innerer Monolog. Freud, Schiele, Schnitzler. Angesichts der Not nach dem Weltkrieg dann Wohnungsbau, Arbeiterbildung, Sozialpolitik. Die dichten soziale Zusammenhänge quer durch die Disziplinen, gestiftet von Kaffeehäusern und Salons, begünstigten interdisziplinäres Denken. Zusammen mit der Erfahrung des raschen und tiefgreifenden sozialen Wandels entstand ein Klima, das der Reflexion über Gesellschaft günstig war: ein Klima für Soziologie.
Träger der Entwicklung war das Bürgertum. Das AKG verstand sich schon lange als bürgerliche Bildungsanstalt. Erfolge, Probleme und Katastrophen des Gymnasiums sind darum eng mit der Entwicklung des Bürgertums verbunden. Seine Jahresberichte und Jubiläumsschriften dokumentieren es. Die Entwicklung der Schule im 19. Jahrhundert lässt sich am Wandel der väterlichen Berufe der Schüler und an prominenten Absolventen ablesen. (Schülerinnen gab es am AKG erst ab 1949/50, Mädchen konnten aber seit dem Ende des 19. Jahrhunderts als Externistinnen maturieren).
Im Vergleich zu anderen Schulen in Wien hatte das AKG einen relativ hohen Anteil an jüdischen Schülern. Auch dies bezeugt die enge Verbindung der Schule mit dem Bürgertum, in dem säkularisierte jüdische Familien eine wichtige Rolle spielten. Die Katastrophe: 1938 verlor die Schule etwa die Hälfte ihrer Schüler. Paul Lazarsfeld, Sohn aus einer bürgerlich etablierten, aber nicht reichen, säkularisierten jüdischen Familie, erlebte sie aus der Ferne. Er entschied sich schon 1935, in die USA auszuwandern.
Kontakt
vobruba(at)uni-leipzig.de
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