Methodologien der quantitativen Sozialwissenschaft Wechselverhältnisse von Theorie, Methodologie und Quantifizierung

Workshop an der Technischen Universität Berlin (via Zoom) am 17./18. Februar 2022

Organisation: Andreas Schmitz (Bonn/Gesis, Köln), Clemens Kroneberg (Köln) & Nina Baur (TU Berlin) mit freundlicher Unterstützung der Fritz Thyssen Stiftung

Link zum Programm (pdf)

Prekäre Lage des wissenschaftlichen Nachwuchses – Virtuelles Mediengespräch

Prekäre Lage des wissenschaftlichen Nachwuchses.

Verantwortungskonflikte zwischen Politik und Universitäten gehen auf Kosten Betroffener und des Wissenschaftsstandortes

Aktuell finden die Leistungsvereinbarungsverhandlungen zwischen Universitäten und Bildungsministerium für die Jahre 2022 und 2025 statt, in denen auch die Novelle des Universitätsgesetzes vom Frühjahr 2021 verhandelt wird. Die Politik hat die Verantwortung an die Universitäten übertragen „entprekarisierende (Karriere)modelle“ zu entwickeln. Es besteht hier die Chance Weichenstellungen für eine Verstetigung der Karrieremöglichkeiten von exzellenten Wissenschafter*innen in Forschung und Lehre in Österreich zu schaffen, die aktuell prekären Arbeits- und Lebensbedingungen zu verbessern und damit auch den Wissenschaftsstandort in Österreich zu stärken.
Aus diesem Anlass veranstaltet Diskurs. Das Wissenschaftsnetz am Mittwoch den 15. Dezember 2021 ein virtuelles Mediengespräch, in dem Wissenschafter*innen Einblicke in die aktuelle Situation des befristet beschäftigten wissenschaftlichen Personals an österreichischen Universitäten geben und die UG-Novellierung und ihre Folgen erläutern. Hierzu möchte ich Sie recht herzlich einladen.
Wann: 15. Dezember 2021, 10 Uhr
Wo: online via Zoom
Inputs:
  • Stefanie Widder (Med Uni Wien), „Umfrage des Elise-Richter-Netzwerks: Exzellente Forscherinnen arbeiten unter extrem unsicheren Verhältnissen“
  • Philipp Sperner (IFK) „Die Zukunft des wissenschaftlichen Nachwuchs? Prekäre Arbeitsverhältnisse an österreichischen Universitäten und die UG-Novelle 2021“
  • Stephan Pühringer (JKU Linz), „Wettbewerb in der Wissenschaft: Intendierte und unintendierte Konsequenzen der Wettbewerbsorientierung von und an Universitäten“

Sektionstreffen Jugendsoziologie

Im Rahmen der letzten Generalversammlung der Österreichischen Gesellschaft für Soziologie wurde die Sektion Jugendsoziologie neugegründet. Prof.in Natalia Wächter (Uni Graz) und Ralph Chan (Uni Wien) laden Sie herzlichst zum ersten offenen Treffen der Sektion ein.

Termin: Di., 21.12. von 17:00-18:30, via Zoom

Falls Sie Interesse haben, schicken Sie bitte eine Email an ralph.chan@univie.ac.at. Sie erhalten anschließend den Zoom Link.

Mit besten Grüßen
Ralph Chan & Natalia Wächter

ONLINE-Tagung: Reformbedarf am Arbeitsmarkt?

Derzeit wird über eine mögliche „Arbeitsmarktreform“ mit Fokus auf das Arbeitslosengeld diskutiert. Die wissenschaftliche Tagung am 2. und 3. Dezember 2021 greift das Thema auf und fragt nach dem Forschungsstand zum Arbeitslosengeld und nach Problemlagen und Reformbedarf am Arbeitsmarkt abseits dieses Themas.

Inhalte sind:

  • Alters- und Langzeitarbeitslosigkeit
  • Prekäre Arbeit
  • Kurzarbeit und Arbeitszeitverkürzung
  • Reformbedarf beim Arbeitslosengeld?

Die Eröffnungsvorträge am Abend des 2. Dezember halten Gerhard Bosch (Universität Duisburg-Essen) und Ian Greer (Cornell University).

Aufgrund des Lockdowns wird die Tagung ONLINE via Livestream stattfinden. Die Teilnahme an der Tagung bzw. an einzelnen Vorträgen und Diskussionsrunden ist ohne Anmeldung möglich.

Programm und Livestream

ÖGS Symposium: #IchbinHanna? Chancen und Herausforderungen des neuen Universitätsgesetzes

Termin: 25. November 2021 (18:30-20:00 Uhr)
Ort: Online Veranstaltung via Zoom
Link zur Veranstaltung: https://univienna.zoom.us/j/93812797806?pwd=Q1B4VlQxKzd6QnpWVnBZc0pEek9XUT09

Wie müssen akademische Karrieren gestaltet sein, um den Beruf in der Wissenschaft attraktiv zu machen und Nachwuchspotentiale zu fördern? Wie können optimale Arbeitsbedingungen gesichert werden? Und was bringt das neue Universitätsgesetz?

Im Rahmen des Symposiums „#IchbinHanna?“ wird die Debatte zur institutionellen Gestaltung akademischer Karrieren in den Blick genommen. Die Österreichische Gesellschaft für Soziologie (ÖGS) lädt zu einer kritischen Reflexion, um die Chancen und Herausforderungen des neuen Universitätsgesetzes mit besonderem Fokus auf die Folgen für Nachwuchs-Wissenschafter:innen zu diskutieren.

Die Österreichische Gesellschaft für Soziologie (ÖGS) freut sich auf einen lebendigen Austausch zwischen Mitgliedern und interessierten Kolleg*innen innerhalb und jenseits der Soziologie.

Podiumsteilnehmer:innen

  • Assoz.-Prof.in Dr.in Mag.a Sabine Haring-Mosbacher, Institut für Soziologie, Universität Graz
  • Dr. in Barbara Hey, Koordinationsstelle für Geschlechterstudien und Gleichstellung, Universität Graz
  • Mag.a Anna Raith, Abteilung für Lehrausbildung und Bildungspolitik, AK Wien
  • Mag. a Christine Perle, Sektion Universitäten und Fachhochschulen, BMBWF

Moderation: Antonia Schirgi, MA MA, Institut für Soziologie, Universität Graz

Veranstaltungshinweis als Poster (pdf)

„Am Puls“-Wissenschaftstalk: Leben am Limit – Kinderarmut und ihre Folgen

Mittwoch, 1. Dezember 2021, 18:30 Uhr
Theater Akzent Wien (Anmeldung erforderlich) oder via Livestream (in diesem Fall keine Anmeldung nötig): www.fwf.ac.at/ampuls
In Österreich sind 1,5 Millionen Menschen armuts- und ausgrenzungsgefährdet, darunter 350.000 Kinder und Jugendliche. Finanzielle Probleme von Eltern wirken sich unmittelbar auf Kinder aus – mit weitreichenden Folgen. Von Armut betroffene Kinder erkranken häufiger, sie haben schlechtere Bildungschancen und eine geringere Lebenserwartung. Wie lässt sich Armut im Allgemeinen, die Kinderarmut im Speziellen wirksam bekämpfen? Wer trägt die Verantwortung dafür, dass Kinder in Armut unterstützt werden? Welche Erkenntnisse lassen sich aus der Armutsforschung ableiten? Wie sehr hat Corona die Lebenssituation betroffener Familien weiter verschärft?
Beim „Am Puls“-Wissenschaftstalk erörtern Maria Katharina Moser, Direktorin der Diakonie Österreich, und der Armutsforscher Gottfried Schweiger unter der Moderation von Radio-Wien-Programmchefin Jasmin Dolati ein Gesellschaftsproblem, das sich oft über viele Generationen fortsetzt.
Teilnahme vor Ort: Der Eintritt ist frei, eine Anmeldung ist erforderlich: www.fwf.ac.at/ampuls.  Bitte beachten Sie die aktuellen Corona-Sicherheitsmaßnahmen.
Livestream & Fragen: Die Veranstaltung wird via Livestream unter www.fwf.ac.at/ampuls übertragen. Keine Anmeldung erforderlich. Seien Sie dabei und schicken Ihre Fragen an Maria Katharina Moser und Gottfried Schweiger vorab per E-Mail an ampuls@fwf.ac.at oder während der Veranstaltung via Chat im Livestream.

Soziologiekongress 2021

Veranstalter: Österreichische Gesellschaft für Soziologie (ÖGS) und Deutsche Gesellschaft für Soziologie (DGS)
Zeit: 23. bis 25. August 2021
Ort: Digital
Zur Kongresswebsite geht es hier.

 

„Alle Räder stehen still, wenn Dein starker Arm es will!“ So lautete die Ermutigung an die Arbeiterklasse als revolutionäres Subjekt im 19. und 20. Jahrhundert, um radikalen gesellschaftlichen Wandel herbeizuführen. Im 21. Jahrhundert ist es ein unbekannter Virus, der eine globale Pandemie auslöst, und wie auf unwiderstehlichen Befehl hin stehen alle Räder still. „Shutdown“ wird eine grundstürzend neue Erfahrung für alle gegenwärtigen Gesellschaften. Es scheint die Chance für eine „Große Transformation“ zu sein, die allenthalben von verschiedenen Seiten gefordert wird. Klimawandel, Umweltzerstörung, Ressourcenraubbau – alles das, was mit modernen Extraktionstechniken assoziiert wird, steht plötzlich zur Disposition. Auch die Globalisierung als Treiber für die Dynamik des gegenwärtigen Kapitalismus wird unversehens in Frage gestellt, obgleich sie in der Vergangenheit trotz aller bitterer Kosten zweifelsohne zum Abbau von globaler sozialer Ungleichheit beigetragen und 300 Millionen Menschen vor allem in China in die Mittelschicht katapultiert hat.

Post-Corona-Gesellschaft – der Titel dieses Soziologiekongresses könnte die Vermutung nahelegen, dass Corona ein Problem der Vergangenheit ist und wir längst auf dem Weg in eine Phase der Normalisierung eingetreten sind. Dies ist ganz offensichtlich nicht der Fall. Corona fordert die Gesellschaft heraus, nach wie vor und auf vielen Ebenen – auch wenn der große Schockmoment, in dem die Welt den Atem anhielt, erst einmal überstanden zu sein scheint. Die Soziologie diskutiert auf virtuellen Tagungen und in Videokonferenzen, wie es weiter gehen kann und welche Lehren aus der anhaltenden Krise zu ziehen sein werden. Wie wird die Post-Corona-Gesellschaft aussehen? Wie geht die Gesellschaft aus einer Situation hervor, in der Wirtschaft, Arbeitswelt und öffentliches Leben einheitlich dem Imperativ der Nicht-Überlastung des Gesundheitssystems unterworfen waren? Vermag diese globale Krisenerfahrung die Weichen umzustellen für eine neue Gesellschaft, die die alten Imperative von Fortschritt, Wachstum, Beschleunigung hinterfragt? Wird sich überhaupt so etwas wie ein Epochenbruch ausmachen lassen oder beschreibt die Post-Corona-Gesellschaft eher eine Phase, in der das Coronavirus allmählich zu einem ganz normalen Gesellschaftsakteur wird (so wie Prionen oder Neutrinos)? Und welche neuen Trends und Tendenzen lassen sich beobachten?

Eines steht für die Soziologie außer Zweifel: Jede Krise prüft den Zustand der Gesellschaft. Getestet werden die Stabilität der Ordnung, das Funktionieren der Institutionen, die Resilienz von Gewohnheiten und Traditionen und natürlich die Lernfähigkeit der Gesellschaft im Umgang mit den Folgen. Für die Soziologie ist die Coronakrise daher ein interessanter Belastungstest für manche ihrer Konzepte und Theorieannahmen: Aus arbeitssoziologischer Perspektive mögen Erfahrungen mit dem Homeoffice die Debatte um die Entgrenzung von Arbeit bereichern. Aus familiensoziologischer Perspektive stellt sich die Frage, inwiefern die (ungleiche) Verteilung von Sorgelasten einen Rückfall in überkommen geglaubte Geschlechterrollen bedeutet. Die Techniksoziologie wird danach fragen, ob Digitalisierung und Künstliche Intelligenz nun noch rascher und flächendeckender durchgesetzt werden als zuvor und welche Folgen Formate digitaler Kommunikation in allen Lebensbereichen haben. Die Politische Soziologie wird sich dafür interessieren, ob extreme Krisen wie die Coronakrise einen bestimmten Typus politischer Herrschaft befördern und welcher Typus von politischer Regierung mit seinem Governance-Stil besser und wirkungsvoller agiert als andere. Aus konfliktsoziologischer Perspektive mag insbesondere interessieren, wie sich jene eigenartig breite Protestbewegung einordnen lässt, die sich im Kontext der Demonstrationen gegen die restriktiven politischen Maßnahmen entwickelt hat und im Feuilleton unter „Pandemie-Pegida“ firmiert. Aus wissenssoziologischer Perspektive irritiert der Boom von Verschwörungstheorien und „Fake News“ – ausgerechnet in einer Krise, die die Bedeutung wissenschaftlicher Expertise unterstrich. Die Umweltsoziologie sorgt sich darum, ob der Ausgang aus der Krise in der unverwandten Rückkehr zur „Normalität“ des globalen Turbokapitalismus besteht, um die materiellen Einbußen so rasch wie möglich aufzuholen, aber eben um den Preis, dass sich der ökologische Verfall unserer Welt noch im 21. Jahrhundert erfüllen wird. Und natürlich die Wirtschaft: Stärkt die Hoffnung auf den Post-Corona-Boom die Legitimationsgrundlage sozialer Marktwirtschaften oder ergibt sich die bereits erwähnte Chance auf eine Große Transformation?

Nicht zuletzt fordert die Coronakrise auch die Gesellschaftstheorie heraus: Welche Folgen hat es für eine funktional differenzierte Gesellschaft, wenn diese extrem dynamische und heterogene Ordnung durch politische Maßgabe auf einen zentralen Leitwert, nämlich den Lebensschutz, programmiert wird? Wie haben die verschiedenen Gesellschaften dieser Welt auf die Pandemie reagiert? Welche Lernprozesse waren zu beobachten? Welche Weichenstellungen wurden vorgenommen und warum? Welche Rückwirkungen wird die Pandemie-Erfahrung für unsere Lebensführung haben? Wie steht es um die Zukunft der Mobilität im Flug-, Bahn- und Autobereich? Bedarf die Moderne mit ihrer sich stets und ständig selbst überbietenden Steigerungslogik des „Schicksals“, etwa in Gestalt eines Virus, um von dem unwiderstehlichen Pfad der permanenten Selbstüberbietung vor dem Horizont der Selbstauslöschung abgebracht werden zu können? Spielt der Virus „Gott“ und kann uns neue Gebote überbringen, die einen nachhaltigen Transformationspfad einzuschlagen erlaubt?

Der Soziologiekongress in Wien wird sich um diesen Fragenkreis drehen. Wie ist es möglich, dass ein aggressiver, grippeartiger Virus schafft, was auf dieser Welt bislang nicht gelingen sollte: Innehalten, Nachdenken und Basisroutinen in Frage stellen? Diesen produktiven Impuls des Coronavirus will der Kongress in Wien aufnehmen und vertiefen. In einer Reihe von Plenarveranstaltungen, Ad-hoc-Gruppen und Sektionsveranstaltungen soll der rationale soziologische Gehalt der gesellschaftsdiagnostisch orientierten These einer Post-Corona-Gesellschaft zur Diskussion gestellt werden.

AnsprechpartnerIn:
Dr. Sonja Schnitzler (DGS), sonja.schnitzler(at)kwi-nrw.de
Philipp Molitor, BA (ÖGS), office(at)oegs.ac.at
Themenpapier Soziologiekongress 2021 in Wien

Tagungsbericht: Erkundungen des Ungewohnten

Bericht zur Online-Tagung
Erkundungen des Ungewohnten. Empirisches Forschen in außergewöhnlichen Kontexten 
Isabelle Bosbach
Am 11. und 12. Juni 2021 fand die an der Universität Passau organisierte sozialwissenschaftliche (Online-)Fachtagung „Erkundungen des Ungewohnten. Empirisches Forschen in außergewöhnlichen Kontexten“ statt. Thematisch rückten die Tagungsorganisatoren Thorsten Benkel und Matthias Meitzler verschiedene Dimensionen der empirischen Befragung und theoretischen Reflexion des sonst Unbefragten in den Fokus.
Im Anschluss an die Begrüßung eröffnete Thorsten Benkel (Passau) die Tagung mit zwei Reflexionen über die Erforschung des Verborgenen: Zum einen werde durch Wissen und dessen Generierung auch immer das (Noch-)Nicht-Gewusste bzw. potenziell Wissbare vergegenwärtigt, und der serendipity effect zeige, dass auch das Feld ungefragt Antworten liefert, die das Fremdverstehen herausfordern können. Zum anderen existiere das Problem des Übergangs von der wissenschaftlichen Sinnwelt in die des Alltags. Zweifel an der Distanz zum Feld bestünden insbesondere dann, wenn Forschende leiblich vom Feld vereinnahmt werden. Allerdings sei die Involviertheit der Forschenden begrenzt, weil ihnen stets die Schwierigkeit der Adaption fremder (feldinterner) Einstellungen gegenüberstehe. Diese Dialektik des Forschungsprozesses bringe das Ungewohnte zum Vorschein – nicht zwangsläufig als antizipiertes Erkenntnisinteresse, sondern als retrospektiver Blick auf die sukzessive Enthüllung des einst Unverstandenen und Verborgenen.
Matthias Meitzler (Passau) demonstrierte in seinem Vortrag, was ungewöhnlich erscheinende Forschungsgegenstände sowie Forschungspraktiken im Feld bedeuten. Die Enttäuschung feldexterner Normalitätserwartungen könne nicht nur bei den Forschenden, sondern auch bei den Rezipient*innen von Forschungsergebnissen für Verunsicherung und Befremdung sorgen. Auf der Grundlage eigener Felderfahrungen thematisierte Meitzler das bisweilen konfliktträchtige Spannungsverhältnis von Feld und Forschung. Je nach Beschaffenheit des Feldes könne die Forschungspraxis zu bald größeren, bald kleineren Irritationen bei den dortigen Akteuren führen. Ferner lasse sich anhand der Forscher*innensubjektivität erkennen, dass die Ungewöhnlichkeit eines Untersuchungsbereiches vom lebensweltlichen Standpunkt der Forschenden abhängig ist. Da das Ungewöhnliche mithin eine grenzüberschreitende Zumutung bedeuten könne, sei nicht nur danach zu fragen, wie viel Forschung das Feld, sondern auch wie viel Feld die/der Forschende verträgt.
Michael Ernst-Heidenreich (Koblenz) stellte seine Überlegungen zur situativen Nicht-Alltäglichkeit für die Erforschung von aus Irritationen hervorgehenden Dynamiken vor. Alltag sei von der situativen Nichtalltäglichkeit zu unterscheiden, weil letztere räumlich, sozial und zeitlich verdichtete und auf das Hier und Jetzt fokussierte Situationen bestimme, die den Nährboden neuer Beziehungen, Formationen und intersubjektiver Bedeutungszumessungen bilde. Ernst-Heidenreich betonte, dass ein solcher ethnografischer Blick auf sich in Bewegung befindende Phänomene das Schreiben einer dynamischen Geschichte eines dynamischen Gegenstands des Entstehens möglich mache.
Melanie Pierburg (Hildesheim) ging in ihrem Vortrag dem ungewohnten Selbst im wissenschaftlichen Kontext auf den Grund. Zunächst bestimmte sie Alltag sozialphänomenologisch als Modus der selbstverständlichen Weltauslegung und das Ungewohnte als eine gescheiterte Auslegung in ein lebensweltliches Passungsverhältnis. Zur Erforschung gescheiterter Passungsverhältnisse schlug sie den innerhalb der Wissenschaft als ungewohnt charakterisierten Zugang der Autoethnografie vor. Am Beispiel der ehrenamtlichen Sterbebegleitung veranschaulichte sie, wie das Ungewohnte im Rahmen einer autoethnografischen Vignette zum Vorschein kommen kann.
Christoph Nienhaus (Bonn) legte dar, dass eine rechtssoziologische Perspektive mehr als die Unterscheidung zwischen erlaubt/nicht erlaubt gewährleiste und verschiedene soziale Ordnungen einzelner, ungewohnter Felder einer pluralisierten Gesellschaft in den Blick nehmen könne. Um die Entstehung und Aufrechterhaltung sozialer Normen, wie ihrer Abweichung zu erklären, müsse Recht als Kultur verstanden werden. Für die empirische Erforschung feldinterner sozialer Normen schlug er eine machtstrukturierende Perspektive auf Subjektivierungs- bzw. Normalisierungsprozesse vor, um auch jene die Ordnung (des Feldes) strukturierenden normativen und kognitiven (Erwartungs-)Erwartungen einzubeziehen.
Am Beispiel der COVID-19-Pandemie betrachteten Julia Huber und Nadine Müller (beide Jena) den plötzlichen Einfluss des Ungewohnten auf ihre der Vorbereitung auf das Ungewohnte dienende Forschung. Im Rahmen ihres Projekts gehen sie der Frage nach, wie Resilienz in Bezug auf den potenziellen Umgang mit High Consequence Infectious Diseases-Situationen gefördert werden könne. Huber und Müller schilderten, wie COVID-19 ihr Forschungsvorhaben verhinderte und wie sie ihren neuen Schwerpunkt fortan auf das Verhältnis von antizipierten und realen Herausforderungen legten.
In der abendlichen Keynote entfaltete Manfred Prisching (Graz) am Beispiel von drei Phänomenen vielfältige Thesen zu der Relation von Alltag und seiner Irritation. Erstens offenbarte die Reflexion über den Alltag in der Schlussepoche der Habsburger Monarchie, dass ein individuell gewöhnlicher Alltag verschieden zu anderen Alltagen unterschiedlicher Milieus desselben Imperiums sei und untereinander nicht immer Anschlussfähigkeit besteht. Die Gewöhnlichkeit für Milieu-Insider und Außergewöhnlichkeit für Milieu-Outsider sei für Soziolog*innen auch in der Gegenwart einer pluralistischen, fragmentierten und individualisierten Welt relevant, weil von einer Zunahme des Ungewöhnlichen auszugehen sei. Zweitens konkretisierten autoethnografische Reflexionen über das einwöchige Festsitzen in einem Hotel in New Orleans während des Hurricans Catharina im Jahr 2005 das Ausmaß der Verunsicherungen durch die Darstellung der gestörten, ehemals normalen Erwartungsbildung. Drittens ließe sich aus der durch die COVID-19-Pandemie irritierten Gewohnheiten ab 2020 ein Gradualismus der Unterscheidung zwischen gewohnt und ungewohnt ableiten, der sich in der (De-)Legitimation von Freiheitsbeschränkungen äußere. Zudem käme der (Un-)Gewöhnlichkeit des Todes eine Sonderrolle zu, weil die Thematisierung von fragilen Körpern plötzlich in ihrer Außergewöhnlichkeit alltäglich geworden sei.
Den zweiten Tag eröffnete Ingmar Mundt (Passau) mit einem Blick auf die unbekannte Facette der Zukunftskonstruktion. So allgegenwärtig Zukunft in der Moderne als Kommunikationsgegenstand auch sei, werde sie letztlich doch nie konkret. Der in soziologischen Gegenwartsdiagnosen negative Blick auf die Zukunft müsse sich auch in den temporalen Selbstverhältnissen der Subjekte äußern. Gegenwärtige Zukünfte seien zwar hinsichtlich ihrer Möglichkeiten offen, durch vergangene und gegenwärtige Entscheidungen sei die zukünftige Gegenwart aber stets vorstrukturiert.
Frank-Holger Acker (Hannover) präsentierte die Analyse eines ungeplanten autoethnografischen Krisenexperiments. Als Polizist und promovierter Soziologe wollte er am wissenschaftlichen Diskurs teilnehmen und einen ihm erteilten Lehrauftrag realisieren. Gegen letzteren legte der ASTA der betreffenden Hochschule allerdings ein Veto ein. Der auch von der Presse aufgegriffene Fall löste einige konfliktreiche Auseinandersetzungen mit der Frage aus, ob sich die Rolle des Dozenten eines sozialwissenschaftlichen Fachs mit der des Polizisten vereinbaren lässt – und führte letztlich zum Abbruch der Lehrveranstaltung. Die zentralen Ereignisse, Inhalte und Akteure dieses Sachverhaltes rekonstruierte Acker anhand einer systemtheoretisch orientierten Perspektive auf das Verhältnis von Polizei und Wissenschaft.
Der Vortrag von Julia Sellig (Passau) gab Einblicke in die Kopplung zwischen selbstlernender Medizintechnologie und Diabetiker*innen. Zunächst erläuterte sie, inwiefern neuere Medizintechnologien wie z.B. selbstlernende Insulinpumpen die Insulinberechnung obsolet machen. Daran anknüpfend illustrierte sie die leibliche Dimension der Technologienutzung mit Rekurs auf die Hermann Schmitz’sche Leibphänomenologie. Die Aufnahme der Körperdaten von dem selbstlernenden System stelle eine einseitige Einleibung dar, die zu einer wechselseitigen Einleibung werde, wenn und weil sie den Nutzenden eine leibliche Gewohnheit biete.
Ekkehard Coenen (Weimar) diskutierte seine Untersuchungen zu im Darknet veröffentlichten Gewaltvideos und zeigte, dass die Kommunikation über Gewaltvideos durch eine Verrätselung und Akzentuierung des Ungewöhnlichen gekennzeichnet ist. In diesem Zusammenhang betrachtete Coenen außerdem aus seinen gemeinschaftlichen Videointerpretationssitzungen.
Mit dem Phänomen der Abweichung war auch Christian Thiel (Augsburg) in seiner Forschung über betrügerische Praktiken konfrontiert. Die von ihm interviewten, als strategische Betrüger*innen typisierte Personen gaben unterschiedliche, nicht kohärente Wirklichkeitskonstruktionen preis, die nicht in der Rekonstruktion des Wahren münden können. Soziolog*innen seien in diesem Feld mit der Herausforderung konfrontiert, zwischen strategisch gesetzter Wirklichkeit und nicht an intersubjektive Deutungen anschließbare subjektive Wirklichkeit zu unterscheiden.
Leonie Schmickler (Passau) thematisierte den weiblichen Intimbereich als Austragungsort gesellschaftlicher Aushandlungsprozesse. Die chirurgische (Re-)Konstruktion des Hymens reagiere auf die Erwartung einer bestimmten körperlichen Beschaffenheit zum Zeitpunkt der ersten ehelichen Penetration und versuche, durch das medizinische Angebot den für die betroffenen Frauen bestehenden sozialen Druck zu lösen. Die Unwissenheit über die Beschaffenheit des Vaginalkränzchens, patriarchalische Gesellschaftsstrukturen und die medizinische Hymen(re)konstruktion hielten den Mythos vom Jungfernhäutchen indes aufrecht. In diesem Sinne liege das Problem nicht im Schoß der Frau, sondern in den gesellschaftlich vermittelten Selbst- und Weltverhältnissen.
Teresa Geisler (Berlin) beleuchtete in ihrem Vortrag, wie und warum sich das Phänomen ‚Chemsex‘ von anderen Formen des Geschlechtsverkehrs unter Substanzgebrauch unterscheidet. Ausschlaggebend seien dafür die Dimensionen Vulnerabilität, Risiko, Lust, Technologie und Versagen der Autoritäten. Chemsex könne als Versuch einer (schwulen) Kollektivierung von intimen Erfahrungen unter neoliberalen Bedingungen verstanden werden.
Den Tagungsabschluss bildete der Vortrag von Andreas Ziemann (Weimar), der seine ethnografische Arbeit zur Steuerfahndung im Bordell vorstellte. Juristische Regelungen wie das Steuergeheimnis der Bürger*innen und das Dienstgeheimnis der Steuerfahnder*innen stellten sich als Hindernisse des (letztlich dennoch gelungenen) Feldzugangs in den Weg. Anhand von Beispielen aus dem Feld legte Ziemann dar, inwiefern Interaktionen mit feldexternen Akteuren vorstrukturiert sind und die beobachtete Berufspraxis einer ständigen Selbstdisziplinierung unterliegt.
Die Tagung ließ eine große Brandbreite ungewöhnlicher Forschungssituationen und -gegenstände erkennen. Unfreiwillige Autoethnografien krisenhafter Situationen wurden ebenso anschaulich dargestellt, wie die forschende Störung der Normalitätskonzepte des Feldes. In diesem Sinne wurden sowohl Einblicke in als ungewöhnlich geltende Phänomene geboten als auch reflektiert, welche Herausforderungen sich hieraus für die Forschungspraxis und die Forschenden ergeben.